Der Regen - The rain (english version below)
Er saß am Fenster, die Hände um eine Tasse Tee gelegt, und starrte hinaus in den Regen. Die Tropfen hingen nicht lange an der Scheibe. Sie rutschten langsam abwärts, wurden länger, vereinigten sich – und verschwanden in einem unaufhörlichen Strom.
Es war beruhigend, diesem Schauspiel zuzusehen. Jeder Tropfen schlug mit einem leisen Klacken auf, so leise, dass es fast Musik war, wenn viele zusammenkamen.
Alles im Fluss, dachte er.
Alles kommt und geht, löst sich auf und kehrt irgendwann zurück.
Ein Gedanke, der ihm gefiel. War das nicht buddhistisch? Reinkarnation? Wiedergeburt? Vielleicht. Sicher war er sich nicht. Aber er glaubte längst nicht mehr, alles wissen zu müssen.
Vielleicht war der Hund des Nachbarn ja wirklich jemand, den er einmal kannte.
Er lächelte bei dem Gedanken.
Sei nett zu jedem und zu allem. Mehr musste man nicht wissen.
Der Regen fiel weiter.
Früher hatte er den Regen gehasst. Wenn die Tage zu dunkel wurden. Wenn das Licht nicht zurückkam. Dann legte sich etwas auf ihn, ein Schleier, ein Gewicht. Als würde sich der Nebel draußen mit dem in seinem Inneren vermischen.
Heute war das anders.
Der Regen war warm. Sanft.
Die Welt schien sich zu reinigen, und er mit ihr.
Er griff nach seinem Rad.
Nicht, um irgendwohin zu müssen. Nicht mehr.
Früher war er gefahren, um zu gewinnen. Um schneller zu sein als andere. Um besser zu sein. Damals, als das Zählen noch wichtig war – Minuten, Watt, Siege.
Heute fuhr er, weil er sich bewegen wollte.
Weil er sich wieder spüren wollte.
Die Felder glänzten nass. Gelber Raps leuchtete unter einem Himmel, der sich dramatisch verdunkelte. Eine schwarze Wand, wie ein Tor, das sich langsam öffnete.
„Kehre um“, raunte der Himmel,
„es wird gleich beginnen.“
Aber er fuhr weiter.
Nicht trotzig. Einfach nur – weiter.
Der Wind kam von vorn, dann von der Seite. Die ersten Tropfen trafen ihn wie Finger, die ihn anstupsten. Dann öffnete der Himmel seine Schleusen.
Es goss. Binnen Sekunden war er durchnässt.
Er lachte.
Wasser. Überall Wasser.
Und mit ihm das Gefühl, dass etwas von ihm abfiel – alter Ballast, alte Bilder.
Als würde sich etwas lösen, das sich lange an ihm festgekrallt hatte.
Er trat in die Pedale, den Kopf gesenkt, das Wasser lief ihm vom Kinn.
Und er fühlte sich leicht.
Fast jung.
Zuhause zog er sich um, trocknete das Fahrrad, kochte sich Kaffee.
Er setzte sich wieder ans Fenster.
Der Regen war leiser geworden. Sanfter.
Die Tropfen perlten jetzt langsamer ab, wie ein Nachklang dessen, was eben noch wild gewesen war.
Er schaute in den Innenhof.
Vertraut und fremd zugleich.
Wie so vieles in seinem Leben.
Er wohnte hier. Schon lange.
Aber gelebt hatte er irgendwann aufgehört.
Als der Erfolg kam.
Als alles immer schneller, lauter, größer wurde.
Er wusste nicht genau, wann das war.
Nur dass er sich auf dem Weg verloren hatte.
Damals. Als er losging.
Der Regen war da gewesen.
Und hatte ihn berührt.
Nicht laut, nicht spektakulär –
aber tief.
Vielleicht war das nichts Besonderes.
Vielleicht war es genau das.
Arno Burgi
© [2024] [Arno Burgi] All rights reserved
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