Der Sonnenblumen Mann
Einst lebte ein Mann in einer kargen Gegend, in der das Leben nicht immer einfach war. Es gab nur wenige Dinge, die ihm in dieser so harten Gegend Freude hätten bereiten können. Doch trotz alledem war er ein zufriedener Mann, und viele beneideten ihn darum.
Sie konnten nicht verstehen, dass er sich nie beschwerte, wenn sie zusammen saßen, bei einem gelegentlichen Besuch auf ein Glas Bier in der einzigen Wirtschaft weit und breit. Sie sprachen dann von ihrer zu anstrengenden Arbeit, dem ungerechten Chef, dem schlechten Wetter, den viel zu teuren Preisen und ihren unzufriedenen Frauen.
Dann saß er da und hörte ihnen zu. Wenn es spät am Abend war und sich die Wege wieder trennten, lief er alleine zurück zu seinem Haus und fühlte sich sehr müde. Nicht die Müdigkeit, die er nach einem langen, harten Arbeitstag verspürte, nein, eine viel schwerere Müdigkeit, als hätte man ihm eine riesige Last auf die Schultern gelegt, mit der er jetzt nach Hause laufen müsse.
Die Last lag sogar noch an den kommenden Tagen auf seinen Schultern. Doch wenn er am Morgen auf den Stufen seines kleinen Hauses mit einer Tasse warmen Kaffees in den Händen saß und die Sonne aufgehen sah, die ihn sanft berührte, dann war es so, als würde eine unsichtbare Hand die Last von seinen Schultern nehmen.
Der alte Mann hatte eine Sonnenblume, die er sehr liebte. Sie erinnerte ihn immer wieder an die wundervolle Kraft des morgendlichen Sonnenaufgangs, und er hegte und pflegte diese Sonnenblume. Manchmal sprach er sogar zu ihr, aber nicht so wie die Männer es in der Wirtschaft zu tun pflegten, denn er wollte nicht, dass seine Sonnenblume unter der schweren Last seine Worte abknicken würde. Und er hatte das Gefühl, dass die Sonnenblume ihn dafür mit ihren schönsten Farben beschenken würde.
Jahr für Jahr kam die Zeit, dass die Sonnenblume verwelkte, auch wenn er sie noch so sehr pflegte. Den Lauf der Natur konnte er nicht aufhalten, das wusste er, so wie er mit den Jahren selbst auch immer älter wurde. Und so pflegte der alte Mann, mit den Jahren immer langsamer werdend, seine Sonnenblume.
Er schmiss sie nicht einfach auf den Kompost, wenn sie verblüht war, sondern sammelte ihre Samen, um diese dann im Jahr darauf in die Erde zu pflanzen. So wuchs mit den Jahren ein kleines Sonnenblumenfeld in seinem Garten, und jedes Mal, wenn er auf der Treppe seines kleinen Hauses saß, erfreute er sich an der wundervollen Kraft der Sonnenblumen bis an das Ende seines Lebens.
Nachdem er gestorben war, riss man sein kleines Haus ab. Bauarbeiter mit großen Maschinen fuhren über das Sonnenblumenfeld und gruben ein tiefes Loch. Mittags saßen die Arbeiter zusammen und beschwerten sich über die viel zu langen Arbeitszeiten, den ungerechten Chef, die viel zu schlechte Bezahlung und ihre unzufriedenen Frauen.
So entstand an der Stelle, an der einmal ein alter Mann in einem kleinen Haus zufrieden gelebt hatte, ein großer Supermarkt, in dem viele Menschen ihre Arbeit verrichteten und viel Geld ausgaben. Die Mitarbeiter des Supermarktes saßen in ihren Pausen manchmal vor der Tür und sprachen über das, was sie sonst auch sprachen, und wie schlecht es ihnen doch ging.
Nur ein junger Mann, der noch nicht so lange in diesem Supermarkt arbeitete, der hörte diesen Männern immer nur zu, und wenn er dann am Abend nach Hause lief, dann fühlte er sich müder, als an den Tagen, an denen er nicht mit diesen Männern zusammen saß.
Eines Tages, es waren schon ein paar Jahre vergangen, entdeckte der junge Mann, der inzwischen nicht mehr ganz so jung war, einen kleinen Blumenspross an der Spalte zwischen der Mauer des Supermarktes und dem betonierten Parkplatz, und er erfreute sich an dem Grün, das Tag für Tag ein wenig wuchs.
Es wurde eine Sonnenblume die er jeden Tag pflegte. Er gab ihr Wasser, und manchmal redete er sogar mit ihr, aber nicht so, wie es seine Kollegen in der Mittagspause taten. Nein, er erzählte ihr von den schönen Dingen des Lebens, von dem morgendlichen Sonnenaufgang, wenn er auf der Fensterbank seiner Wohnung saß und eine Tasse warmen Kaffees trank, und er erfreute sich an dem lachenden Gesicht der Sonnenblume.
Als die Zeit kam, dass die kleine Sonnenblume verwelkte, nahm er jedes einzelne kleine Samenkorn, legte es vorsichtig in ein Küchentuch, das er mitgebracht hatte, und nahm sie alle mit nach Hause. An seinem freien Wochenende nahm er sein mit Samen gefülltes Küchentuch und machte einen Spaziergang durch die Stadt. Und überall dort, wo es ihm nicht gefiel, nahm er ein Samenkorn aus dem Tuch und vergrub es vorsichtig in der Erde.
So kam es, dass im Frühjahr des kommenden Jahres in der ganzen Stadt kleine Sonnenblumen sich ihren Weg ins Tageslicht suchten und goldfarben blühten und den Menschen viel Freude an ihrem Anblick schenkten und manches sich sogar ein wenig veränderte.
Die Menschen lachten mehr und sprachen mehr über die schönen Dinge des Lebens.
© (Arno Burgi) Alle Rechte vorbehalten
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