Geliebtes Fräulein „Weiß ich nicht“
"Weiß ich nicht", sagt Fräulein „Weiß ich nicht“, und Herr „Keine Ahnung“ denkt darüber nach. Nicht nur über Fräulein „Weiß ich nicht“, sondern vielleicht sogar oder auch genau über das, was Fräulein „Weiß ich nicht“ nicht weiß. Weiß sie es wirklich nicht? Will sie es nicht wissen? Kann sie es nicht wissen? Oder gibt es vielleicht gar keine Antworten auf seine Fragen? Fräulein „Weiß ich nicht“ glaubt, Herr „Keine Ahnung“ weiß doch so viel. Aber warum sagt sie dann nur so oft „Weiß ich nicht“, und er „Keine Ahnung“? Das beschäftigt Herrn „Keine Ahnung“ seit geraumer Zeit. Herr „Keine Ahnung“ denkt viel nach, nicht nur über Fräulein „Weiß ich nicht“. Er denkt viel über die Welt nach, in der er lebt. Die Welt und die Menschen, die in ihr leben, beschäftigen ihn sehr. So kommt es, dass sein Kopf manchmal überfüllt ist. So wie die U-Bahnen in Japan, in denen die Menschen an den Bahnhöfen reingedrückt werden. So fühlt sich manchmal sein Kopf an, wenn er einfach nur durch die Straßen läuft und das Gefühl hat, dass das, was er dort sieht, in seinen Kopf gedrückt wird. So lernen sich Fräulein „Weiß ich nicht“ und Herr „Keine Ahnung“ irgendwann, irgendwo in einem Land kennen, das beiden manchmal so fremd ist, obwohl sie es doch beide kennen sollten. Denn sie leben schon lange in dem bekannten „fremden“ Land. Nur ist es irgendwie mal anders.
Dass Herr „Keine Ahnung“ keine Ahnung hat und dass Fräulein „Weiß ich nicht“ nichts weiß, passt so gar nicht zu den beiden. Trotzdem verwenden sie beide diese Redewendungen sehr oft. Was ist es dann, denkt Herr „Keine Ahnung“, dass sie, dass er, diese Worte so oft benutzen? Ist es nur eine Angewohnheit, eine Redewendung? Oder ist es vielmehr ein Rückzugsort, um nicht Stellung beziehen zu müssen, wenn man gefragt wird? "Weiß ich nicht", sagt Fräulein „Weiß ich nicht“, als er sie das einmal fragt. Am liebsten hätte er Fräulein „Weiß ich nicht“ eigentlich „Fräulein Rosarot“ genannt, obwohl er diese Farbe eigentlich nicht mochte. Aber Fräulein „Weiß ich nicht“ mochte er umso mehr. Er wünschte sich so oft eine rosarote Welt für Fräulein „Weiß ich nicht“, denn manchmal war ihre Welt so überhaupt nicht rosarot. Dann war sie eher dunkelgrau, und dunkelgrau denkt sich Herr „Keine Ahnung“, das ist keine Farbe, sondern ein Gefühl. Und wenn man nicht aufpasst, kann es sogar zu einem Zustand werden. Ja, er denkt sehr viel nach. Oft fragt er sich, ob nur er so viel nachdenkt. Ob nur er die Welt, in der er lebt, nicht mehr so richtig versteht.
Wenn er Menschen trifft, irgendwo, die ihm dann alles erzählen, aber alles viel zu schnell und von allem viel zu viel, in viel zu langen Sätzen, denkt er darüber nach. Sätze, die kein Ende nehmen wollen, so wie dieser, nur noch viel, viel länger. Sätze, die von einer Reise durch ein Leben erzählen, in dem viel, vielleicht viel zu viel passiert ist. Dann denkt Herr „Keine Ahnung“ darüber nach, was wohl im Leben dieser „Viel zu viel“-Menschen passiert sein muss. Wie kann es sein, dass der Filter nicht mehr funktioniert bei den „Viel zu viel“-Menschen, und warum begegnen gerade ihm so viele „Viel zu viel“-Menschen? Wie der Mann, der mitten im Winter mit kurzen Hosen auf einem Platz in seiner Stadt vor einem Theater sitzt, umgeben von Büchern und Zeitschriften. "Wissen Sie, das müssen Sie sich einmal vorstellen", sagt der „Viel zu viel“-Mann. "Als ich mal nach Paris gefahren bin – ich habe mir das Auto von einer Freundin geliehen, die auch schon einmal in Paris war, deren Schwester einmal in Marokko war, wo einmal ein berühmter Mann gelebt hat – wissen Sie, dass man dort nur mit der rechten Hand essen darf? Ich habe mal Psychologie studiert, und in dem Hotel in Paris, das ist eine tolle Stadt, war ich mal mit einem Mercedes, den ich mir mal geliehen habe, von einer Freundin." Herr „Keine Ahnung“ hat zugehört und nichts verstanden, nur eines. Die japanische U-Bahn des kurzen Hosen Mannes war einfach zu voll, und er denkt darüber nach. Oder die Frau, die Blumen bringt, als Herr „Keine Ahnung“ bei seinem türkischen Friseur sitzt. Die mal in Südamerika gelebt hat. Die auch mal in Brasilien war, wo man sie ja fast verhaftet hätte, weil sie ja eigentlich da gar nicht hinwollte und der Pass ja ganz woanders war.
Die Frau, die Herrn „Keine Ahnung“ fragt, ob er nicht heute Nacht in der Kirche bei der Taufe des Transvestiten dabei sein möchte und ob er Fotos für sie einscannen könnte, weil sie ja so viele Fotos hat, weil ihre Mutter ja auch fotografiert hat und sie eine „Computerphobie“ hat und gar keinen Computer besitzt. Ob er filmen könnte, weil sie da so eine wahnsinnige Idee hat. Darüber müsse man unbedingt mal etwas machen, und ob sie ihre Sachen mal kurz hier lassen könnte, weil sie mal eben zum Krankenhaus müsse. Sie ist ja nicht obdachlos, aber wegen Hartz IV, wissen Sie? Dann denkt Herr „Keine Ahnung“ über das „Wissen Sie“ nach. "Die ist ein wenig verrückt", sagt sein türkischer Friseur. "Ganz viele Verrückte hier", sagt er, und Herr „Keine Ahnung“ denkt nach. Wie so oft. War es vielleicht die Stadt, in der er lebte, die Schuld an dem hatte, was ihm da begegnete? Kann eine Stadt wie ein Magnet sein? Hat eine Stadt eine gewisse Anziehungskraft, dass jeder da lebt, wo er hingehört? So wie die Nadel eines Kompasses, die auch nicht zufällig irgendwo hinzeigt?
Ist es der freie Wille? Ist es das kostbare Gut „Freiheit“, das der Mensch in die Hand gelegt bekommen hat, an dessen Gewicht er jedoch zu Grunde geht? Oft sprach er dann mit Fräulein „Weiß ich nicht“ über das Erlebte und seine Gedanken. Sie hörte ihm gerne zu, und oft sagte dann Fräulein „Weiß ich nicht“, weiß ich nicht. Wer, fragte sich Herr „Kein Ahnung“, wer weiß die Antworten auf alle meine Fragen, oder ist es vielleicht besser, sich erst gar nichts zu fragen? Wer drückt die Menschen eigentlich in die U-Bahnen, und warum lassen sie sich eigentlich in die U-Bahnen drücken? Woher kommen die U-Bahnen, und wohin fahren sie? Sind es vielleicht zu viele Fragen und zu wenige Antworten bei den „Zu viel“ Menschen gewesen, die ihre U-Bahnzüge zu voll gemacht haben? Und jetzt fahren sie nur noch im Kreis? Irgendwo im Nirgendwo? Pass schön auf Dich auf, dachte sich Herr „Keine Ahnung“, sonst landest Du noch selbst einmal in so einer U-Bahn, aber nur am Bahnhof stehen, ohne jemals zu fahren, ohne jemals zu wissen, wo die Züge herkommen und wohin sie fahren, das wollte er auch nicht. Habe ich dir schon gesagt, dass ich dich liebe, fragte Herr „Keine Ahnung“ Fräulein „Weiß ich nicht“? Ja, sagte Fräulein „Weiß ich nicht“. Ich weiß, aber bitte sage es noch einmal. Ja, ich liebe Dich. Ob „Keine Ahnung“ oder „Weiß ich nicht“. Es sind mehr als nur Redewendungen. Es sind Aufforderungen, dachte sich Herr „Keine Ahnung“. Frage dich. Höre nie auf. Suche nach Antworten, doch schau genau hin, in welchen Zug du einsteigen willst, denn manche sind einfach zu voll, und lass dich nicht von irgendjemandem rein drücken, sonst wirst du noch erdrückt, Fräulein „Weiß ich nicht“.
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