Die Sanduhr - The hourglass
Ich schrieb einem Freund eine E-Mail. Das pflegen wir in regelmäßigen Abständen zu tun. Wir treiben Konversation, berichten von den vergangenen Tagen und dem Erlebten und tauschen Gedanken aus.
So kam es, dass ich ihm darüber berichtete, dass ich das Gefühl hätte, dass mit zunehmendem Alter die Zeit schneller verstreicht.
Dies tat ich mit dem Vergleich einer Sanduhr.
Anschließend fuhr ich Fahrrad und der Gedanke der Sanduhr ließ mich nicht mehr los.
So betrachtete ich mein Leben als das kleine Häufchen Sand einer Sanduhr, das durch eine kleine Öffnung zwischen zwei Glaskugeln fließt. Ich stellte mir die volle Glaskugel vor, die einmal umgedreht stetig kleine Sandkörner durch eine feine Öffnung fließen lässt. Am Anfang stellt man kaum eine sichtbare Veränderung auf der vollen Seite fest, würde sich nicht auf dem Boden der zuvor noch leeren Glaskugel ein kleines Häufchen Sand bilden. Sieht die volle Kugel doch noch immer voll aus. Erst in dem Augenblick, in dem mehr als die Hälfte des Sandes die Seiten gewechselt hat, scheint der Sand wie durch Zauberhand plötzlich schneller zu fließen und je mehr die obere Glaskugel sich leert, desto rasanter fließt der Sand in die untere Kugel, bis zum letzten Korn.
Ich fragte mich, ob es sich auch so mit meinem Leben abspielt.
Als Kind weiß man nichts von der Vergänglichkeit des Lebens. Nicht ein Gedanke wird an das große Ganze verschwendet, ist doch Zeit im Überfluss vorhanden. Geht es manchmal sogar nicht schnell genug und manches zieht sich, als wäre die Zeit stehengeblieben. Der sechzehnte, der achtzehnte Geburtstag wird schnell herbeigesehnt, die Schulzeit will einfach nicht enden, die letzten Stunden vor dem Urlaub ziehen sich wie Kaugummi. Die Glaskugel ist voll und wir wissen nicht einmal um die Existenz einer Glaskugel. Die Zeit vergeht. Die Jahre vergehen. Sinnvoll oder sinnlos. Wir vergeuden Zeit, vertrödeln Zeit, haben Zeitmangel, rennen der Zeit hinterher und versuchen Zeit zu gewinnen. Wir leben und der Sand fließt von einer Glaskugel in die andere. Und dann kommt der Tag, an dem wir feststellen, dass die Kugel nur noch halb voll ist und wir betrachten die Zeit mit anderen Augen. Gute und schlechte Zeiten und irgendwann sehen wir die Zeit, die uns noch bleibt. Die eine Kugel leert sich, die andere füllt sich und das Leben endet. Mit jedem Korn ein wenig mehr.
Was leert sich und was füllt sich und dreht jemand die Sanduhr wieder um?
Für was steht jedes einzelne Sandkorn? Minuten, Stunden, Tage, Jahre?
Eines steht fest: Jedes einzelne Sandkorn darf sich nicht von dem anderen unterscheiden. So ist jedes einzelne Korn doch genauso wichtig wie das andere Korn, folglich ist jede Minute, jede Stunde im Leben wichtig, denn sie sind gezählt und ihre Anzahl kennen wir nicht.
Ein schöner Gedanke, der mir hilft, auch schlechte Zeiten in ein anderes Licht zu stellen und nicht nur schöne Zeiten zu genießen. Vielleicht waren die Sandkörner ja auch all die Menschen, die uns im Leben begegneten? Die uns nahe standen und sich entfernten? Die uns ein Leben lang begleiteten?
Je mehr Zeit verstreicht, desto weniger Menschen werden es und am Ende bleibt nur noch ein Korn. Wir selbst. Was bleibt, wenn das letzte Korn die Glaskugel verlassen hat?
Sind es mit jedem Korn, das die Seite wechselt, Erinnerungen, Erfahrung und Weisheit, die auf der anderen, sich stetig füllenden Hälfte der Sanduhr entsteht? Ich glaube ja, und je eher wir dieses erkennen, uns der Vergänglichkeit bewusst werden, desto wertvoller wird das Leben.
„Denn nicht das Leben an sich, sondern die Essenz des Lebens, macht es lebenswert.“
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