Warnung an mich selbst - Warning to Myself (english version below)
"Vorwort"
Dieser Text ist keine Klage, sondern eine Warnung – an mich selbst, an uns alle.
Er erzählt von Einsamkeit, Verlust und der Frage nach Würde im Alter.
Nicht, um Angst zu machen, sondern um zu erinnern: dass Menschlichkeit nicht verordnet werden kann, sondern gelebt werden muss.
Möge er dazu ermutigen, hinzusehen – und nicht weg.
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Ich saß an meinem Tisch und schaute zum Fenster hinaus.
Die Grünfläche, auf die ich blickte, wirkte grau. Sie hatte ihre Kraft verloren, die sie noch vor ein paar Wochen gehabt hatte. Fußspuren zeichneten sich im feuchten, matschigen Boden ab, und hier und da lag ein blauer Beutel mit Hundekot.
Warum sind sie eigentlich blau – und nicht braun, wie das, was in ihnen vor sich hin stinkt? Damit man sie besser sieht, wenn sie auf die Wiese geworfen werden?
Die Bäume waren kahl, wirkten grau und alt – als wären sie gestorben. Schwarze Striche vor grauem Himmel. Zwei Frauen standen im Eingang des Gebäudes direkt gegenüber. Sie rauchten Zigaretten in ihren weißen Kitteln, die sie kaum vor der Kälte schützten.
Die Arme eng verschränkt, auf den Beinen wippend, zogen sie hastig an ihren Zigaretten, während sie sich unterhielten. Nach einer Weile zertrat die eine ihre Zigarette, die andere schnippte sie auf die graue Grünfläche – so, wie ich es als Kind beim Glaskugelspiel getan hatte: Zeigefinger und Daumen zu einem „O“ geformt, den Finger gespannt – und geschnippt.
Ein Hund an einer langen Laufleine saß starr im Matsch und kackte. Sein Herrchen schaute dabei auf sein Handy und zerrte nach einer Weile an der Leine, ohne dabei den Hund zu betrachten, der noch immer kackte.
Ich schaute wieder auf den Tisch.
Auf einer roten Papierserviette mit Weihnachtsmotiv stand eine Kerze mit einem kleinen Solarpanel.
Echte Kerzen seien zu gefährlich, hatte man mir gesagt.
Mein Abendbrot lag noch auf dem Teller: eine Scheibe hellbraunes Graubrot, zwei Scheiben Wurst, eine Scheibe Käse, ein Stück Butter und ein Joghurt. Daneben eine Kanne Tee, die für zwei Tassen reichte.
Ich hatte keinen Hunger. Schon lange nicht mehr.
Das Essen erinnerte mich an meine Krankenhausaufenthalte.
Wozu essen? Ich sitze, liege, sitze, liege – wozu brauche ich Nahrung?
Ich sah zu den Fotos auf dem kleinen Schrank gegenüber meinem Bett.
Die Kinder hatten mir im vergangenen Jahr zu Weihnachten ein Foto geschenkt. Daneben stand ein Bild, das uns zeigte – meine Frau und mich.
Ich vermisse sie. Ich vermisse die Kinder, ich vermisse mein Leben.
Wo sind all die Jahre geblieben?
Wie lange habe ich die Kinder nicht mehr gesehen?
Ist es schon wieder Weihnachten?
Ich dachte an die kalten Winter, die ich manchmal erleben durfte – an den Schnee, die Spaziergänge mit ihr und den Kindern, an die Weihnachtsmärkte, den Glühwein, an Heiligabend.
Draußen war der Hund verschwunden. Zumindest lag nur Kacke auf der Wiese – keine blaue Tüte.
Die Laterne neben der Bank leuchtete, und der Boden darunter zeigte, dass es regnete.
Durch die geschlossene Tür hörte ich Stimmen und das Klirren von Geschirr.
Ich schaute wieder auf den Tisch – auf den kleinen Plastikbecher vor mir. Wie immer hatte ich die Tabletten in ein Taschentuch gewickelt, um sie später in der Toilette herunterzuspülen.
Die Tür öffnete sich, und eine junge Frau im weißen Kittel fragte, ob ich denn gar keinen Hunger hätte.
„Sie müssen doch was essen – schmeckt es Ihnen nicht?“
Ich wollte mich erklären, doch kein Wort kam über meine Lippen.
Ich schrie so laut ich konnte – doch niemand hörte mich.
Ich hatte meine Stimme verloren. Irgendwann. Ich weiß nicht mehr, wann.
„Ich komm gleich und bring Sie dann ins Bad“, sagte sie.
„Hatten Sie einen schönen Tag? Heute ist der erste Advent.“
Sie roch nach Zigaretten, als sie mich wusch. Mir wurde übel.
Wie jeden Abend wurde ich ans Bett fixiert.
Früher schlief ich immer auf dem Bauch, doch seit ich mehrfach herausgefallen war, durfte ich nur noch auf dem Rücken liegen.
Gefesselt. Ich konnte mich nicht mehr drehen.
Man sagte mir, die Hand- und Fußfesseln seien zu meiner eigenen Sicherheit. Damit ich mich nicht wieder verletze.
Warum habt ihr mich nie gefragt?
„Gute Nacht, schlafen Sie gut.“
Das Licht ging aus. Es wurde still. Auch auf dem Gang.
Manchmal hörte ich Schreie, manchmal Weinen.
Ich dachte an meine Kinder, die mich nicht mehr besuchen durften – weil sie mich hätten anstecken können.
Ich lag da und dachte an meine Frau.
Wie traurig ich war, damals, als sie starb.
Ich liebte sie so sehr.
Wenn du mich jetzt sehen würdest, meine geliebte Frau …
Lasst mich noch einmal in ihren Armen liegen.
Einfach nur sterben – gemeinsam mit ihr.
Lasst mich doch endlich gehen.
Mein Rücken schmerzte. Ich konnte nicht schreien.
Als ich diesen Text schrieb, saß ich an meinem Küchentisch.
Ich hörte Rachmaninow – und weinte.
Ich weinte über meinen Text.
Ich weinte, weil das Leben so unvorstellbar enttäuschend sein kann.
Ich weinte um mich, um meine Eltern, um all meine Enttäuschungen.
Ich weinte mit Rachmaninow, dessen Schmerz, die Heimat verloren zu haben, ich in jeder Note spürte.
Ich weinte, weil ich in einer Gesellschaft lebte, in der ich keinen Platz für mich fand.
In einer Welt, deren Teil ich nicht mehr sein wollte, von der ich mich immer wieder loslöste – um frei zu sein.
Ein Jahr später hatte ich den Text noch einmal gelesen.
Seit ich ihn damals geschrieben habe, ist viel Zeit vergangen.
Wieder liefen mir Tränen über die Wangen –
doch etwas hat sich verändert.
Es ist nicht das Leben, das entscheidet, ob es lebenswert ist.
Ich selbst bin es.
Ich bin nicht nur Statist, sondern der Hauptdarsteller in meinem Film.
Der Regisseur, der Kameramann, der Maskenbildner, der Locationscout.
Ich bin derjenige, der alles in den Händen hält –
und entscheiden darf,
wie sein Film endet.
Und heute?
Heute habe ich den Text meine Frau vorgelesen. Ich habe wieder mit den Tränen gekämpft, doch sie hat mich gehalten.
© [2024] [Arno Burgi] All rights reserved-
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Warning to Myself
"Foreword"
This text is not a complaint, but a warning – to myself, to all of us.
It tells of loneliness, loss, and the question of dignity in old age.
Not to instill fear, but to remind us that humanity cannot be mandated – it must be lived.
May it encourage us to look, and not look away.
I sat at my table, looking out the window.
The green space I looked at appeared gray. It had lost the strength it had just a few weeks ago. Footprints marked the damp, muddy ground, and here and there lay a blue dog-waste bag.
Why are they blue – and not brown, like the thing that stinks inside them? To make them easier to see when thrown on the grass?
The trees were bare, gray, and old-looking – as if dead. Black streaks against a gray sky. Two women stood in the entrance of the building directly opposite. They smoked cigarettes in their white coats, which barely protected them from the cold.
Arms tightly crossed, bouncing on their feet, they drew hurriedly on their cigarettes while talking. After a while, one crushed her cigarette, the other flicked hers onto the gray lawn – just as I had done as a child playing marbles: thumb and forefinger forming an “O,” finger tense – and snap.
A dog on a long leash sat motionless in the mud, defecating. His owner stared at his phone and after a while tugged on the leash without looking at the dog, who was still defecating.
I looked back at the table.
On a red Christmas-themed paper napkin sat a candle with a small solar panel.
Real candles were too dangerous, I had been told.
My dinner still lay on the plate: a slice of light brown bread, two slices of cold cuts, a slice of cheese, a pat of butter, and a yogurt. Beside it, a pot of tea enough for two cups.
I had no appetite. Not for a long time.
The food reminded me of my hospital stays.
Why eat? I sit, lie down, sit, lie down – why would I need nourishment?
I looked at the photos on the small cabinet opposite my bed.
The children had given me a photo last Christmas. Next to it was a picture of us – my wife and me.
I miss her. I miss the children, the grandchildren. I miss my life.
Where have all the years gone?
How long has it been since I last saw the children?
Is it already Christmas again?
I thought of the cold winters I had sometimes experienced – the snow, walks with her and the children, Christmas markets, mulled wine, Christmas Eve.
Outside, the dog was gone. At least only waste remained on the lawn – no blue bag.
The lantern by the bench glowed, and the ground beneath it showed that it had rained.
Through the closed door, I heard voices and the clinking of stacked dishes.
I looked again at the table – at the small plastic cup in front of me. As always, I had wrapped the pills in a tissue to flush them later.
The door opened, and a young woman in a white coat asked if I really wasn’t hungry.
“You have to eat something – doesn’t it taste good?”
I wanted to explain, but no words came out.
I screamed as loudly as I could – but no one heard me.
I had lost my voice. At some point. I no longer remember when.
“I’ll come in a moment and help you to the bathroom,” she said.
“Did you have a good day? Today is the first Sunday of Advent.”
She smelled of cigarettes as she washed me. I felt sick.
As every evening, I was secured to the bed.
I used to sleep on my stomach, but after falling out of bed multiple times, I was allowed to lie only on my back.
Bound. I could no longer turn.
They said the hand and foot restraints were for my own safety. To prevent me from hurting myself again.
Why didn’t you ever ask me?
“Good night, sleep well.”
The light went out. Everything became quiet. Even in the hallway.
Sometimes I heard screams, sometimes crying.
I thought of my children, who could no longer visit – because they might infect me.
I lay there thinking of my wife.
How sad I was when she died.
I loved her so deeply.
If you could see me now, my beloved wife…
Let me lie in your arms one more time.
Just die – together with you.
Let me go at last.
My back ached. I could not scream.
As I wrote this text, I sat at my kitchen table.
I listened to Rachmaninoff – and cried.
I cried over my text.
I cried because life can be unimaginably disappointing.
I cried for myself, for my parents, for all my disappointments.
I cried with Rachmaninoff, whose pain of having lost his homeland I felt in every note.
I cried because I lived in a society where I had no place.
In a world I no longer wanted to be part of, from which I constantly freed myself – to be free.
A year later, I read the text again.
A lot of time has passed since I wrote it.
Tears ran down my cheeks again –
yet something had changed.
It is not life that decides whether it is worth living.
I do.
I am not just an extra; I am the protagonist in my own film.
The director, the cameraman, the makeup artist, the location scout.
I am the one who holds everything in my hands –
and may decide
how my film ends.
And today?
Today I read the text to my wife. I fought back tears again, but she held me.
© [2024] [Arno Burgi] All rights reserved-


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